BUSBEKANNTSCHAFT

Endlich. Der Bus bog um die Ecke und er versuchte schon mal zu erkennen, ob sie drin war. Ja, er sah sie, ein Glück. Er versuchte im Bus nicht allzu hektisch zu sein, aber eine gewisse Zielstrebigkeit war doch zu erkennen. Er bewegte sich auf sie zu und dann stand er wieder neben ihr. Endlich wieder ihre Nähe. 

Die Sache hatte vor etwa 2 Monaten angefangen. Sie fuhren im selben Bus und standen zusammen. Der Bus war ziemlich voll und so drängten sie sich aneinander. Er stand hinter ihr und fand sie attraktiv, sehr attraktiv sogar. Ihr Haar war seinem Gesicht ganz nah, er nahm ihren Duft auf und ihm wurde amourös und dann schlichterdings geil zumute. Mit der Beule in seiner Hose berührte er sie am Po. 

Beim ersten Mal sogar unabsichtlich, weil der Busfahrer hart bremste. Sie wich dem nicht aus. Im Gegenteil, sie drängte sich noch gegen ihn, was im vollen Bus nicht weiter auffiel. 

Angenehm, sehr angenehm und erregend. Und diese erotische Spiel hatten sie jetzt schon öfter durchgezogen, immer wenn die Situation im Bus es zulies. Einmal hatte er zusätzlich mit seinem Mund ihren Hals berührt. Zärtlich, so zart wie eine Feder. Sie hatte dabei Gänsehaut am ganzen Körper gehabt. 

An jedem seiner Arbeitstage war sie seitdem im Bus gewesen, wenn er auf dem Heimweg war. Außer gestern. 

Da wurde ihm plötzlich bewußt, was ihm diese Begegnungen mit ihr im Bus bedeuteten. Wie er diese Treffen, oder wie immer man das nennen wollte, täglich neu herbeisehnte. Das wichtigste Ereignis jedes Tages. 

Was, wenn sie zum Beispiel ab morgen gar nicht mehr kommen würde? Wenn sie nur als Urlaubsvertretung hier in der Nähe gearbeitet hatte und diese Zeit nun abgelaufen war oder irgendwas in der Richtung? Nicht auszudenken. 

Er dachte drüber nach, warum sie eigentlich noch nie miteinander gesprochen hatten. Er wußte darauf auch keine Antwort, hatte sich irgendwie so eingespielt. War doch auch so - oder besser gesagt gerade auf diese Art - sehr spannend gewesen. Bis auf gestern, als sie nicht da war. Die Vorstellung, sie nicht wieder zu sehen brachte ihn in Panik. Entsprechend schlecht hatte er auch geschlafen, genauer gesagt gar nicht. 

Mit Betrübnis dachte er in dieser Nacht an die Zeit, als er in diesen Partnerbörsen unterwegs war. Ein Foto. Das ist es, wovon man da ausgeht, ob jemand in Frage kommt oder nicht. Und der Text natürlich. Aber hauptsächlich das Foto. Aus wieviel mehr ein Mensch doch besteht. Stimme, Habitus, der gesamte Körper mit seinen Details, die Kleidung, die Ausdrucksweise, Geisteshaltung und Intelligenz. Wie jemand guckt und denkt und spricht und geht und steht und ist, einfach die ganze Art und Weise. Geilheit hin oder her, irgendwann kommt das alles zum Tragen. Jedenfalls war es bei ihm oft danebengegangen. Wenn man sich traf kam´s doch irgendwie nicht hin. Einmal hatte er sich allerdings in eine Frau verliebt, sie aber leider nicht in ihn. Und auch andersrum war das mal vorgekommen. Dann hatte er den ganzen Scheiß erstmal sein lassen. Und jetzt diese Nummer hier im Bus. 

Diese Frau gefiel ihm, sie hatte so eine sinnliche Ausstrahlung. Welches Wort fiel ihm noch ein? Liebreiz vielleicht. Ein komisches Wort. So unmodern und ähnlich wie Juckreiz. Wie kam er jetzt darauf? Fast mußte er lachen über seine blödsinnigen Gedanken. Abschweifen, das war es, was er eigentlich am allerbesten konnte. Er nannte es allerdings lieber fantasievoll, das klang schon ganz anders. Egal jetzt. Zurück zum Thema: Heute wollte er sie ansprechen und dazu hatte er sich extra ein paar gelungene Worte ausgedacht. 

Er mußte sich direkt etwas überwinden. Nein, jetzt kein Drückeberger sein, befahl er sich. Gerade wollte er mit seinem Text loslegen, da sprach ihn die korpulente Frau vom Nachbarsitz an: “Das ist ein schönes Hemd, was sie da tragen. Haben sie es sich selbst ausgesucht oder macht das ihre Frau für sie?“ Dann sah die Dicke zu seiner schönen Busbekanntschaft. 

Das warf ihn komplett aus dem Konzept. 

“Nein nein, das Hemd hab ich mir schon selber gekauft. Freut mich, das es ihnen gefällt.” 

Dann sah er zu seiner Angebeteten. Wie schön er ihre Augen und ihr Gesicht fand. 

Zum ersten Mal sahen sie sich so geradeheraus in die Augen und plötzlich mußte er lachen. Jetzt fing auch sie an zu lachen. Ein befreiendes, herzerfrischendes und gemeinsames Lachen. Herrlich. Er vergaß völlig seinen vorgefertigten Text und sagte: „Aber wer weiß, vielleicht wirst du ja eines Tages meine Frau.“ Danach schluckte er hörbar und wurde rot. 

Sie sah ihn direkt an, sah ihm bis auf den Grund seiner Seele und sagte – nichts. 

Ein paar Sekunden vergingen. Es war auf einmal eine irritierende Situation für ihn, befremdlich. Die dicke Frau rutschte auf ihrem Sitz rum und murmelte: „Also irgendwie..“ Dann hustete sie und sah zur Seite. 

Die anderen Fahrgäste nahmen an nichts teil. Hauptsächlich Jugendliche mit Ohrstöpseln, die ihre Rolle als Kamele und Kühe der Gesellschaft passenderweise durch Kaugummi kauen zu unterstreichen wußten. 

Seine Haltestelle. Er stieg aus. Spontan aber auch automatisch, weil er dort immer ausstieg. Nun stand er da. Der Bus fuhr weiter. Jetzt ärgerte er sich schon, das er ausgestiegen war. Winken fiel ihm ein, zu spät, der Bus bog gerade ab. Jetzt müßte es eigentlich auch noch regnen, dachte er. Oder ich steh mit beiden Schuhen in Hundescheiße. Irgendsowas. 

Sie stand da im Bus mit Tränen im Gesicht, ließ sie einfach laufen. Es war ihr letzter Tag gewesen. Sie hatte den Job über eine spezielle Zeitarbeitsfirma bekommen, die sich darauf spezialisiert hatte, Taubstumme zu vermitteln.

© Copyright 2009 Mario Stresow (Francesco Slowdown) - Alle Rechte vorbehalten - Revised 28.12.2021