LEHMANN

Er hatte sich das so gedacht: Einfach mit beiden Pobacken fest auf dem Polster des Stuhles sitzen bleiben. Dann die Luft ganz langsam und kontrolliert ablassen und die Arschbacken nicht anheben. Dann hätte er die Chance, dass niemand etwas hörte und sich der Geruch auch nicht so schnell ausbreitete. Wäre er alleine in seinem Büro - er würde einfach eine Backe anheben, das Teil kräftig in die Freiheit schieben und den Vorgang mit dem Kommentar: "Aah, herrlich!" abschließen. Aber hier waren nun mal außer ihm noch 13 andere Personen anwesend. 

Der Chef sagte mal bei einer Sitzung: “Unsere Mitarbeiter sollten sich nicht zu gekünstelt, sondern eher natürlich benehmen.” Aber damit war sicherlich nicht gemeint, dass man einfach frei heraus furzen sollte, während der Chef gerade spricht. Der könnte das als Desinteresse werten oder gar als Bewertung seiner Rede auffassen. 
Also versuchte er es auf die anonyme Art. Als kleine Petitesse dachte er daran, dem Leiter der Firma dabei scheinbar interessiert in´s Gesicht zu gucken. Aber dann entschied er sich doch dafür, sich auf sein Kernvorhaben zu konzentrieren. Gesagt, getan. Zum Glück schien niemand etwas bemerkt zu haben. Allerdings breitete sich jetzt um seinen Anus eine heiße Masse aus, so fühlte es sich an. Verdammt. "Scheiße", dachte er und hätte es beinahe laut gesagt. Womit er sein momentanes Problem perfekt mit einem Wort beschrieben hatte. Was sollte er jetzt tun? Allein im Raum wäre er natürlich sofort aufgestanden, damit sich die Kacke nicht zu sehr mit seiner Unterhose, seiner Anzughose und womöglich mit dem Stuhlpolster vermanscht. Hinzu kam auch noch, dass das Grummeln in seinem Darm noch schlimmer wurde und er inzwischen schon heftiges Bauchkneifen hatte. Während seine Gedanken in Hochtouren darum kreisten, was er jetzt machen sollte, hörte er, wie der Chef seinen Namen aussprach. 

Tatsächlich, jetzt noch einmal: "Hallo, Herr Lehmann? Wenn ich sie dann noch einmal bitten dürfte?" Angesichts seines schlimmen Bauchkneifens war Lehmann so mit dem Ablassen seiner Darmwinde beschäftigt, dass er dem Boss nicht zugehört hatte. Um das zu kaschieren, antwortete er nun mit einem Allgemeinplatz, in der Hoffnung, dass dieser verfangen würde. "Ja, ich, äh, also ich denke, bei allen Vorhaben in unserem Unternehmen, ob kleinere oder auch größere Aktionen, sollte heutzutage stets auch der Fokus darauf liegen, dass wir im digitalen Zeitalter leben. Mediale Maßnahmen werden also immer auch begleitend eingesetzt werden müssen, um einen möglichst guten Erfolg zu gewährleisten." Für aus dem Stand geschossen fand er seine Äußerung nicht schlecht. 

Direktor Bernstorff antwortete darauf: "Das ist ja schön und gut Herr Lehmann, ich hatte sie aber doch nur darum gebeten, mir ganz einfach die Kaffeekanne rüber zu reichen. "Auch das ist möglich." rutschte es Lehmann raus. Dafür hatte er ein paar Lacher auf seiner Seite. Der Chef lachte allerdings nicht, er schrieb sich einen Vermerk. Dann geschah es: Lehmann erhob sich leicht vom Stuhl, um die Thermoskanne zu greifen. In diesem Moment löste sich sich bei ihm eine Flatulenz mit ungeahnt brachialer Gewalt. Der gewaltige Druck dahinter sorgte für eine gehörige Lautstärke und einen sonoren Klang im Bassbereich. Kollege Sieberg dachte: "Respekt, klingt wie mit eingebautem Subwoofer." Er verkniff sich aber, dass laut auszusprechen. Wer die Hände auf dem Tisch liegen hatte, konnte durchaus eine leichte Vibration in der Tischplatte spüren. Ein allgemeines Prusten und Lachen ging durch den Raum. Nur Herr Bernstorff blieb erneut ruhig und machte sich eine weitere Notiz. Jetzt war es mucksmäuschenstill im Raum. "Der ideale Moment, um noch einen nachzulegen." dachte Kleber, aber auch er sprach es nicht aus. Ihm liefen die Tränen vom Lachen über das Gesicht. 

"Kann man am Sound eines Furzes erkennen, ob noch etwas anderes als Luft mit rausgekommen ist?" Hätte man die Frage an dieser Stelle in den Raum geworfen, alle Anwesenden hätten umgehend genickt und mit einem klaren "Ja" geantwortet. Denn das Geräusch von Lehmanns Monsterfurz hörte nicht einfach nur so auf. Am Schluss bekam der Klang etwas bröckeliges und blubberiges. Es hörte sich einfach unhygienisch an. Die Frage war inzwischen aber auch obsolet geworden, denn es breitete sich nun ein bestialischer Gestank im Raum aus. 

"Jeder ist eben auf seine Weise produktiv." flüsterte Sieberg zu seinem Sitznachbarn. Frau Schneeweiß, nach Auffassung von Herrn Lehmann mit Abstand die attraktivste Mitarbeiterin der Firma, stieß ein "Igitt" aus. Dann nestelte sie zügig ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, um es sich vor Mund und Nase zu halten. Lehmann spürte, wie es ihm an den Beinen runterlief. Er wagte nicht, an sich herunter zu sehen, um zu checken, ob schon etwas aus seinen Hosenbeinen tropfte. So stand er da, halb aufgestanden mit der Kaffeekanne in der Hand und bewegt sich keinen Millimeter. "Alles ein Traum" schoss es ihm durch den Kopf, "Gleich wache ich auf und hab das alles nur geträumt. Dann kann ich Beate erzählen, was ich blödsinniges geträumt habe. Nein, besser doch nicht." 

Doch leider war dies kein Traum, sondern Realität: 13 Augenpaare wanderten gespannt zwischen Herrn Lehmann und dem Chef hin und her. Letzterer sagte nun sachlich und ruhig: "Wir unterbrechen das Meeting für 15 Minuten. Ich bitte darum, gründlich zu lüften und den Stuhl von Herrn Lehmann raus zu bringen. Herrn Lehmann selbst beurlaube ich hiermit für den Rest des Tages, damit er sich um seine peristaltischen Angelegenheiten kümmern kann." In kleinen Schritten bewegte sich Lehmann auf den Ausgang zu, wobei er sich seine Aktentasche vor den Arsch hielt. 

Tags darauf erschien Lehmann nicht auf der Arbeit. Am frühen Nachmittag lies Bernstorff den Mitarbeiter Markus Sieberg in sein Büro kommen. "Nehmen Sie Platz Herr Sieberg. Ich habe Kenntnis davon bekommen, dass sie gestern während der Konferenz den heiklen Auftritt von Herrn Lehmann mit ihrem Handy gefilmt haben. Das haben viele gar nicht mitbekommen, ich auch nicht. Am Abend haben Sie diesen Film dann auf ihren YouTube Kanal hochgeladen. Dazu haben Sie einen gehässigen und Herrn Lehmann herabwürdigenden Kommentar geschrieben. Einige Mitarbeiter unseres Hauses kommentierten ebenfalls in belustigender Art und Weise. Diese Mitarbeiter werde ich auch zu Einzelgesprächen einladen. Ich möchte Ihnen sagen, dass ihre Mentalität und unsere Firmenethik nicht zusammenpassen. Sie sind hiermit fristlos entlassen. Im weiteren spreche ich hiermit ein Betretungsverbot für Sie aus, welches mit der Grenze des Firmengrundstückes beginnt. Um die anhängigen arbeitsrechtlichen Aspekte wird sich Herr Doktor Schlegel ..." 
Sieberg zuckte zusammen. Ihm fiel erst jetzt auf, dass Herr Doktor Schlegel auch im Raum war. Der stand bei dem großen Aktenregal und musterte Sieberg in aller Ruhe. Bernstorff fuhr fort: "... kümmern. Das gilt auch für die Schadensersatzforderung, mit denen die Werner Bernstorff GmbH und Co. KG an sie herantreten wird. Es sieht wohl so aus, dass sie diese mit ihren Vermögensverhältnissen nicht ausgleichen werden können. Das ist allerdings, mit Verlaub gesagt, ihr Problem. In ihrem Arbeitsvertrag steht im übrigen, dass alle firmeninternen Sitzungen grundsätzlich vertraulich zu behandeln sind. Herr Doktor Schlegel hat das soweit alles mit entsprechenden juristischen Formulierungen in einem Schreiben an sie zusammengefasst." 
Bernstorff deutete auf den Briefumschlag, der auf dem Schreibtisch lag. "Abschließend möchte ich Ihnen noch meinen Dank aussprechen. Sie waren sieben Jahre lang unser Mitarbeiter und haben hier im Großen und Ganzen gute Arbeit geleistet. Ihre charakterliche Veranlagung, sehr zur Häme zu neigen, war dabei allerdings für das Klima unter den Kollegen nicht immer förderlich. Wie auch immer, trotzdem vielen Dank für Ihre langjährige Mitarbeit. Wir werden jetzt nicht in eine Diskussion darüber einsteigen, was geschehen ist. Bitte suchen Sie gleich nach dieser Unterredung ihre persönlichen Sachen zusammen und verlassen Sie das Betriebsgelände. Herr Doktor Schlegel wird sie dabei bis zum Firmentor begleiten." Bernstorff nahm den Brief und schloss mit: "Ich überreiche Ihnen nun im Beisein von Herrn Doktor Schlegel diese Kündigung." Sieberg nahm das Dokument entgegen und Bernstorff wies ihm dann die Tür, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen. 

Gegen Abend klingelte es bei Beate Schlüter, der Lebensgefährtin von Herrn Lehmann. "Guten Abend, Kriminalpolizei Altenburg. Mein Name ist Tanja Brixen und das ist mein Kollege Gero Burg." Beide hielten ihr eine Plakette und einen Dienstausweis hin. "Dürfen wir für einen Moment reinkommen?" fragte der Polizeibeamte. Frau Schlüter bat beide herein. Ihr war ziemlich flau zumute, denn die Kriminalpolizei kommt im allgemeinen nicht, um die neuesten Sonderangebote von Aldi zu übermitteln. Ein Film dachte sie, es ist wie eine Szene in einem Film. Kommissarin Brixen bat Frau Schlüter zunächst darum, dass sich alle hinsetzen und fragte dann: "Sind Sie Beate Schlüter, die Lebensgefährtin von Bruno Lehmann, geboren am 4. August 1968?" "Ja das bin ich." sagte sie leise, "Was ist denn los?" Sie schaute zu Boden als würde sie da die Antwort suchen. Dann sah sie Frau Brixen an, während ihre Augen glasig wurden. “Was ist los?” Sie zog die Nase hoch und sagte es gleich nochmal: „Was ist los?“ Ihr Blick war ein einziges Flehen darum, dass jetzt nicht das gesagt wurde, was man aus den Kriminalfilmen kennt: "Wir müssen Ihnen leider mitteilen ..." 
Tanja Brixen war eine einfühlsame Frau. Und diese Frau hier vor ihr war zierlich und machte einen zerbrechlichen Eindruck. Die Polizistin setzte an: "Ich muss Ihnen leider sagen .." - dann stockte sie und schluckte. Gero Burg kam seiner Kollegin zu Hilfe und sprach zügig mit fester Stimme: "Frau Schlüter, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir heute die Leiche von Bruno Lehmann gefunden haben." Nach einer kurzen Pause ergänzte er: "Sie lag in einem abgelegenen Schuppen hier in der Nähe. Wir gehen aufgrund der Umstände am Fundort momentan nicht von einem Fremdverschulden aus." 

Bruno Lehmann *04.08.1968 † 21.Januar 2017

© Francesco Slowdown 2017